Me too …

Er ist tot. Der Bademeister ist tot. Als ich ihn vor ein paar Jahren zum letzten Mal ergoogelt hatte, habe ich gesehen, dass er relativ jung, aufgrund einer schweren Erkrankung in einem Alten- u  Pflegeheim lebte. Jetzt ist er tot. Gerade mal 68 ist er geworden. Fühle ich etwas? Nein. Nicht mehr. Ich habe ihn einmal gehasst. Vor allem damals, ca. 1999, also etwa 15 Jahre nachdem das alles passierte, als ich ihn an einem bekannten Schwulentreffpunkt traf und ihn damit konfrontierte, was damals geschah. Er hat alles geleugnet. Aber dann sah ich die Angst in seinen Augen, als ich ihm sagte, ich würde ihn nun jedesmal darauf ansprechen, wenn wir uns begegnen. Auch wenn das vielleicht vor allen Leuten an der Supermarktkasse in einem vollen Laden in unserer gemeinsamen Heimatstadt sei. Es ist nie dazu gekommen. Ich wohne ja schon lange nicht mehr dort und wir sind uns nie wieder persönlich begegnet. Das Wissen, dass sich das Blatt gewendet hatte, dass nun ICH Macht über IHN hatte, dass er nun Angst hatte, hat mir damals geholfen. Kein Charakterzug auf den ich stolz bin, aber es war nun mal so.

Ich weiß, dass meinen Blog auch Menschen lesen, die sowohl Continue reading

“Mein Name ist Beate, ich weiß von nix. Und eigentlich gibt es uns auch gar nicht.”

1945: “Wir haben das nicht gewusst!” (Millionen Nazis)
2015: “Ich habe das nicht gewusst!” (Beate Zschäpe)

Nun ja…. nach 1945 kamen Millionen von Nazis mit dieser Aussage durch. Viele von denen konnten in der jungen Bundesrepublik Karriere machen. Wer will es nun Beate Zschäpe verdenken, dass sie diesen bewährten Satz – ganz im Stil ihrer nationalsozialistischen Vorbilder – heute auch gesagt hat?

Ach ja….
Etwas hat sie ja doch gewusst. Nämlich dass die deutsche Polizistin “nur” ermordet wurde, um an ihre Dienstwaffen zu kommen.

Ob diese Information nun etwas neues ist? Hatten wir das nicht irgendwie alle schon geahnt?

Ach… Und noch etwas:
Den NSU hat es eigentlich gar nicht gegeben. Sagt Beate Zschäpe. Hätte sich einer der beiden “bösen Uwen” ja nur ausgedacht. Das ist ja nun doch neu. Mal schauen, ob sie damit durchkommt. Kann einem schon leid tun, diese arme Frau. Zieht mordend und brandschatzend mit zwei Typen durchs Land und kriegt es nicht mit.

Wäre nicht gerade DIESER Satz zu makaber, würde ich jetzt sagen:

Die hat doch den Schuss nicht gehört!

Die Kanzlerin und das Flüchtlingsmädchen

Ich bin kein CDU-Wähler. Beide Großväter waren Bergleute. Da bekommt man die Sympathie zur SPD schon in die Wiege gelegt. Allerdings war das noch die SPD von Helmut Schmidt, Willy Brandt, Herbert Wehner und nicht die von Gabriel und Nahles. Sei’s drum, die Partei unserer Bundeskanzlerin ist nicht die, die ich wähle. Trotzdem muss ich sagen, dass m.E. Frau Merkel ihren Job so gut macht, wie seit Helmut Schmidt keiner mehr.

Deshalb stört es mich, dass zurzeit ein Shitstorm gegen sie durch die ach so sozialen Medien tobt. Was ist passiert? Frau Merkel hat sich einem aus Palästina stammenden Mädchen zugewandt, das dort saß und weinte. Es weinte, weil es Angst hat, irgendwann Deutschland verlassen zu müssen. Sie ist voll integriert, spricht akzentfrei Deutsch, geht mit großem Erfolg in eine deutsche Schule. Doch sie und ihre Familie haben nur ein bedingtes Bleiberecht.

Die Bundeskanzlerin sprach freundlich mit ihr. Man sah ihr an, dass das Mädchen ihr sehr leid tat. Aber sie tat etwas, das wohl von Politkern nicht mehr erwartet wird und das wohl heutzutage verurteilt wird: Frau Merkel war ehrlich. Ehrlich sagte sie, dass sie die Ängste des Mädchens versteht. Genauso ehrlich sagte sie aber auch, dass einige in Deutschland lebende Menschen das Land auch wieder verlassen müssen.

Was hätte Frau Merkel sonst tun sollen? Hätte sie über die Tränen des Kindes, das dort direkt vor ihr in der ersten Reihe saß, hinweggehen sollen? Hätte sie das Kind ignorieren und ihr Programm abspulen sollen? Man hätte ihr Hartherzigkeit, Gleichgültigkeit vorgeworfen! Und es hätte nicht dem entsprochen, was sie fühlte. Sie fühlte, “ich muss jetzt mit diesem Kind sprechen!”.

Hätte sie sagen sollen “Kleine, ich verspreche Dir, Du darfst für immer hier bleiben!”. Und dann womöglich dieses Versprechen nicht halten?

Oder hätte die Bundeskanzlerin einfach kraft ihrer Wassersuppe entscheiden sollen, dass dieses Mädchen und seine Familie bleiben darf? Das darf und KANN sie gar nicht. Und selbst wenn sie es könnte, was wäre dann mit all den anderen “Einzelschicksalen”? Wäre es nicht furchtbar ungerecht, dass gerade dieses Mädchen, das zufällig der Kanzlerin ihre Tränen und Ängste zeigen konnte, bleiben darf und alle anderen nicht?

Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in dem kraft der Verfassung, unseres Grundgesetzes, alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und in dem sich auch der Regierungschef/die Regierungschefin nicht über geltende Gesetze hinwegsetzen darf. Denn so ein Land war unser Land schon einmal! Der Nachteil dabei ist, dass Gesetze generelle Rechtsprechung sind und keine Einzelschicksale berücksichtigen können und dürfen. Sie sind gemacht, um die bestmögliche Form des Staatssystems und des Zusammenlebens zu gewährleisten. Etwas, das “bestmöglich” ist, kann nicht immer “das Beste” für jeden Einzelnen sein. Das ist oft tragisch. So wie in diesem Fall, der mir aufrichtig leid tut. Doch das ist unumgänglich, um größtmögliche Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu gewährleisten.

Nach diesem kleinen staatsrechtlichen Exkurs nun zurück zu Frau Merkel:

Die Bundeskanzlerin war bewegt von den Tränen des Kindes, das konnte man ihr ansehen. Es tat ihr leid, dass sie dem Kind nicht helfen konnte. Ja, nicht helfen KONNTE(!), denn ich bin überzeugt, der Mensch Angela Merkel hätte gern geholfen, das Kind in den Arm genommen und gesagt: “Natürlich bleibst Du hier und Deine Eltern und Geschwister auch!”. Aber Angela Merkel ist nicht nur “Mensch”. Sie trägt auch eines der höchsten Ämter in unserem Staat und hat einen Eid auf unsere Verfassung (das Grundgesetz, vor dem alle Menschen gleich sind und gleich behandelt werden müssen, s.o.) geleistet. Und so tat sie – vielleicht schweren Herzens -, was sie tun musste: Sie war professionell. Sie äußerte Mitgefühl. Und sie war ehrlich. Mehr konnte sie nicht tun. Mehr durfte sie nicht tun.

Vielleicht führt diese Begebenheit dazu, dass die Kanzlerin innerhalb ihrer Partei, die ja die stärkste Kraft in der momentanen Koalitionsregierung ist, die Diskussion um das Bleiberecht neu anstößt. Vielleicht wird dadurch irgendwann die Gesetzeslage dahingehend geändert, dass Menschen, die so sehr in Deutschland integriert und verwurzelt sind wie eben dieses Mädchen, für immer hier bleiben dürfen.

Ich würde es mir wünschen. Und ich bin mir sicher, Angela Merkel wünschte sich dies in dem Moment, als sie von dem Mädchen zurück ans Rednerpult ging auch.

Nein, die CDU ist nicht meine Partei. Gerade was das Bleiberecht angeht, liegen meine Ansichten weit jenseits derer der CDU und auch der heutigen SPD. Meiner Meinung nach gehört jeder nach Deutschland, der bereit ist, unsere Verfassung – die ich für eine der besten der Welt halte – zu respektieren und zu akzeptieren, der bereit ist sich in unser Land zu integrieren und hier seinen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in diesem Staat zu leisten. Kleine Mädchen aus Palästina tun dies, indem sie Deutsch lernen und in der Schule fleißig sind. Folglich gehören für mich solche kleinen Mädchen nach Deutschland, wenn sie gern hier leben möchten. Und zwar für immer und mit einem dicken “WILLKOMMEN”!

Wie gesagt, die CDU ist nicht meine Partei. Aber vor der Bundeskanzlerin, ihrer Professionalität, die sie mit Menschlichkeit gepaart hat und vor ihrer Ehrlichkeit in dieser Angelegenheit habe ich Respekt und Hochachtung.

#4U9525 und die neue deutsche Betroffenheits-Kultur

Heute stürzte die Maschine der Lufthansa-Tochter Germanwings mit der Kennung 4U9525 auf ihrem Weg von Barcelona nach Düsseldorf über den französischen Alpen ab. Alle 150 Insassen fanden dabei den Tod. Unter den Passagieren befand sich auch eine Schülergruppe aus Haltern in NRW.

Ja, ein solches Unglück macht “betroffen”. Vielleicht denkt man auch einen Moment darüber nach “Was wäre wenn…”. Was wäre, wenn mein Kind mit an Bord gewesen wäre? Was wäre, wenn meine Ehefrau eine der Stewardessen gewesen wäre? Was wäre, wenn der Pilot mein Lebenspartner gewesen wäre?

Es ist gut und richtig, dass wir Menschen zur Empathie fähig sind. Es ist gut und richtig, dass wir einen Moment innehalten und Gedanken des Mitleids, des “leiden mit den Betroffenen” empfinden.

Aber können wir dieses Leid wirklich ermessen? Vor allem, ist es wirklich UNSER Leid? Und müssen wir deshalb an diesem Tag alle möglichst ÖFFENTLICH (und öffentlichkeitswirksam!) leiden?

Die heutige Zeit ist geprägt von den sozialen Medien, die längst den konventionellen Medien den Rang abgelaufen haben, wenn es darum geht, Nachrichten in Windeseile rund um den Globus zu verbreiten. Konventionelle Medien – vor allem das Fernsehen – greifen gern bei Ereignissen wie diesem auf die Postings in den “sozialen” Medien wie Twitter, Facebook, Google+ und anderen zurück, um die Stimmung des Volks einzufangen.

Dies setzt meines Erachtens einen Mechanismus in Gang, bei dem man nicht weiß, was zuerst da war. Waren da zuerst die millionenfachen öffentlichen Bekundungen der Betroffenheit in den Sozialen Medien über die dann im Fernsehen berichtet wurde oder wurde zuerst im Fernsehen darüber berichtet und die Nutzer der Sozialen Medien fühlen sich dadurch quasi unter Druck gesetzt auch dort ihre Betroffenheit zu bekunden, weil sie ja nicht als weniger empathiefähig gelten wollen als andere?

Schaut man heute in die sozialen Medien, so ist der Hashtag #4U9525 das Top-Thema. Ein paar Trolle entblöden sich nicht, unter diesem Hashtag dämliche Flugabsturz-Witze zu reißen. Dass sich ein solches Verhalten verbietet, das versteht sich von selbst. Diese Menschen weiß ich jedoch einzuordnen und sage “arm an Geist und Substanz”. Das Netzwerk Twitter bietet für solche Fälle die sehr nützliche Blockier-Funktion und man muss die Postings solcher Menschen nie wieder lesen.

Jedoch gehen mir auch einige Betroffenheits-Tweets massiv gegen den Strich. Das bezieht sich nicht nur auf Twitter, sondern auch auf Facebook und andere “soziale” Medien. Da wird sich gegenseitig damit überboten, die eigene Betroffenheit und Trauer als besonders intensiv darzustellen und in die Welt des Internets hinaus zu schreien. Als ob es dabei um einen Wettbewerb ginge. Ein Wettbewerb darum, wer am meisten mitleidet. Vielleicht ist es unbewusst ja der Wettbewerb darum, es mit seinem eigenen Betroffenheits-Tweet und Facebook-Posting in die Nachrichtensendungen des Fernsehens zu schaffen?

Ich will niemandem seine Gefühle des Mitleids absprechen.

Aber müssen wir dies so sehr zur Schau stellen? Muss dies solche Blüten treiben, dass derjenige, der voller Freude und Stolz der Welt (seiner Follower-Welt auf Twitter oder Facebook) über eine bestandene Prüfung berichtet, verurteilt wird, weil er sich an einem Tag wie heute freuen kann? Darf ich mich an einem Tag wie heute nicht darüber freuen, dass in meinem unmittelbaren sozialen Umfeld ein Kind geboren wurde? Darf ich das nicht fröhlich in die Welt hinaus posten? Ja, darf ich an einem Tag wie heute nicht darüber lachen und das niedliche Foto posten, das meinen Kater dabei zeigt, wie er sich tief in meinen Wäschekorb eingräbt? So wie ich das an jedem anderen Tag auch tun würde?

Und stellen wir uns doch auch einmal die Frage, ob es nicht viele, viele Dinge gibt, die uns eigentlich genauso betroffen machten müssten. Zwei Beispiele will ich nennen:

1. Legt man die Zahlen des Vorjahres zu Grunde, dann sind bis heute (24.03.2015) allein im März 2015 wieder 196 Menschen auf deutschen Straßen ums Leben gekommen. Auch das waren Eltern, Kinder, Lebenspartner, Ehefrauen. Insgesamt mehr Tote als bei dem Flugzeugabsturz. Nur in diesem Monat, der noch nicht zu Ende ist. Jeder einzelne von ihnen ein Mensch, ein Mensch um den getrauert wird. Jeder einzelne tödliche Verkehrsunfall ein Ereignis, dass das Leben, das Schicksal der trauernden Angehörigen für immer verändert.

2. Allein heute wurde wieder bei 5 Kindern in Deutschland Krebs diagnostiziert. Nur heute. An diesem 24.03.2015, der uns wegen #4U9525 so sehr betroffen macht. Das sind 155 Kinder im gesamten März. Rund die Hälfte dieser Kinder wird den Krebs nicht besiegen können und daran sterben.

Macht uns das genauso betroffen? Warum nicht? Warum reden wir nicht darüber? Warum sind die sozialen Netzwerke nicht voll davon? Das passiert monatlich, täglich, nicht nur heute. Es gibt keinen Hashtag dafür wie für den Flug #4U9525 und auch die konventionellen Medien berichten nicht darüber. Warum nicht? Weil es keine Quote bringt? Weil es “normal” ist? Weil es gar keiner wissen will? Weil es uns nicht betroffen macht?

Und warum wollen wir dann bei #4U9525 betroffen sein? Warum wollen wir da so öffentlich und exzessiv kollektiv trauern?

Nochmals: Mir tun die Menschen, die heute an Bord von #4U9525 ums Leben kamen und deren Angehörige wirklich leid. Nein, “betroffen” bin ich nicht. Denn ich kannte keinen von ihnen und auch keinen ihrer nun trauernden Angehörigen. Aber ich bin ein empathiefähiger Mensch und empfinde es natürlich als tragisch, dass so viele Menschen – darunter neben den Kindern und Jugendlichen im Übrigen auch zwei Säuglinge – ums Leben kamen.

Aber ich muss dies nicht zur Schau stellen. Ich muss nicht in der Öffentlichkeit unter Beweis stellen, dass ich der empathiefähigste Mensch auf Gottes weiter Erde bin. Und vor allem muss ich nicht Menschen verurteilen, die – auch an einem Tag wie heute – Freude empfinden können, weil es in ihrem eigenen Leben gerade gut läuft.

Stellen wir uns doch einmal die Frage, wie und warum sich diese neue deutsche Betroffenheitskultur entwickelt hat. Geht man einmal 30 Jahre zurück, so nahm man Nachrichten wie diese zur Kenntnis, sagte “Mein Gott, wie tragisch!” (und meinte das sogar wirklich ernst) und ging wieder zur Tagesordnung über. Doch heute hat jeder, wirklich jeder, die Möglichkeit über die sozialen Netzwerke eine Menge Menschen zu erreichen. Ich schreibe einen (etliche schreiben sogar im 5-Minuten-Takt immer wieder einen) Betroffenheits-Tweet über den Flugzeugabsturz, poste vielleicht ein besonders stimmungsvolles Foto mit einer Kerze und den Buchstaben “R.I.P” (Rest in Peace / Ruhe in Frieden) auf Twitter oder Facebook und bekomme als “Anerkennung” dafür hunderte von “Likes” auf Facebook oder “Faves” auf Twitter. Ja, ich kann mich nun zurücklehnen und mir sagen, dass ich ein “Gutmensch” bin. Denn ich habe volle Anerkennung für meine Empathiefähigkeit erhalten.

Ist diese neue deutsche Betroffenheitskultur vielleicht in Wahrheit nur eine Möglichkeit, sich selbst in ein möglich positives Licht zu stellen? Und dies, indem ich das Leid anderer Menschen – nämlich der wirklich “Betroffenen” – nutze, um mir selbst die Anerkennung meiner Mitmenschen zu sichern?

Was ist mit all dem anderen Leid und Elend in unserer Umgebung? Gehen wir mit offenen Augen durch die Gegend, finden wir auch in unserer eigenen Umgebung Leid. Ja, auch in unserer Stadt gibt es vielleicht die Mutter mit drei Kleinkindern, deren Mann heute durch einen Verkehrsunfall starb. Über sie wird nicht den ganzen Tag gesprochen. Nicht im Fernsehen und auch nicht in den sozialen Medien. Dabei hätten wir gerade hier die Möglichkeit unsere Betroffenheit durch Taten zu beweisen. Vielleicht im ersten Moment der Trauer durch eine stille Umarmung. Vielleicht in ein paar Monaten dadurch, dass wir einen Abend auf ihre Kinder aufpassen, damit sie auch einmal wieder mit einer Freundin ins Kino oder eine Pizza essen gehen kann.

Das wäre für mich echte Betroffenheit, echtes Mitleid und tätige Nächstenliebe. Aber das würde ja niemand auf Facebook “liken” oder bei Twitter “faven”. Kaum jemand würde davon Notiz nehmen. Und schon gar nicht bestünde die Chance, es damit in die Nachrichtensendungen zu schaffen. Also lassen wir es doch lieber sein und äußern weiter in einer – für mich – äußerst übertriebenen und unpassenden Art und Weise unsere Betroffenheit zu Ereignissen, die zwar sehr tragisch sind, uns aber eigentlich gar nicht betreffen, die uns jedoch zweifelsohne die größere Möglichkeit zur Selbstdarstellung bieten.

Das ist wohl dann die neue deutsche Betroffenheitskultur.

Weihnachten wird unterm Baum entschieden!

“Weihnachten wird unterm Baum entschieden!!!”, schrie uns ein großer Elektromarkt vor ein paar Jahren in der Adventszeit täglich in der Werbung entgegen. Ob das wohl wirklich stimmt? Wie sieht es in den Familien aus?

Anna-Lenas Mutter ist gestresst. Seit Tagen ist sie damit beschäftigt, das Fest vorzubereiten. In diesem Jahr ist sie an der Reihe, die Familie am Heiligabend zu bewirten. Eigentlich hat sie gar keine Lust dazu. Sie weiß genau, dass ihre Schwiegermutter wieder herumnörgeln wird, weil Anna-Lenas Mutter die Weihnachtsgans nicht genau so hinbekommt wie sie selbst. Und Anna-Lenas Vater wird sich wieder mit seiner Schwester zanken. Aber es hilft nichts, da muss sie jetzt durch.

Natürlich schmeckt die Gans auch in diesem Jahr wieder nicht gut genug für die Oma. Und Tante Susanne fängt auch wieder mit der alten Geschichte an, dass Anna-Lenas Vater es ganz geschickt angefangen hat, dass er mit seiner Familie das Haus der Eltern übernehmen konnte. Der Vater wird wütend und trinkt immer mehr. Alle schreien durcheinander. Niemand hat Zeit für Anna-Lena, dabei würde sie so gern mit allen zusammen das neue Spiel spielen, dass die Oma ihr geschenkt hat.

Nach dem Essen wird der Streit so heftig, dass Tante Susanne und ihr Mann die Oma ins Auto packen und wütend abhauen. Papa verzieht sich mit der Cognacflasche in sein Arbeitszimmer, Mama macht die Küche sauber und schimpft dabei leise vor sich hin. Anna-Lena sitzt allein im Wohnzimmer unterm Weihnachtsbaum und ist traurig, dass Weihnachten gar nicht so schön ist, wie alle immer behaupten. Wird Weihnachten unterm Baum entschieden?

Tim ist schon früh zu Bett gegangen. Irgendwie war Weihnachten früher viel schöner. Aber dieses Jahr ist Tim sehr traurig. Zwar wird er der einzige in seiner Klasse sein, der das neue iPhone hat, aber freuen kann er sich darüber nicht. Sein Vater hat es ihm eben geschenkt, damit sie in Zukunft Video-Telefonate führen können. Aber noch vor dem Essen ist er wieder abgefahren. Schon vor drei Monaten hatten die Eltern ihm gesagt, dass Papa in eine andere Stadt zieht und dort nun mit einer anderen Frau lebt. Aber heute, zu Weihnachten ist er doch gekommen, um Tim unter dem Weihnachtsbaum das iPhone zu schenken. Gleich danach war er schon wieder weg. Tims Mutter hat geweint und ist dann in ihr Schlafzimmer gegangen. Und Tim saß allein da mit seinem neuen iPhone, über das er sich gar nicht richtig freuen kann. Da hat er dann die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum gelöscht und ist auch in sein Zimmer gegangen. Da steht er nun, der Weihnachtsbaum. Dunkel und allein im Wohnzimmer. “Irgendwie überflüssig, der Baum”, denkt Tim traurig. Wird Weihnachten unterm Baum entschieden?

Ngungi lebt mit ihrer Familie in Kenia. Das ist in Afrika und hier ist es selbst zu Weihnachten sehr warm. Ihre Hütte, die nur aus einem einzigen kleinen Raum besteht, liegt in einem Dorf unweit der Küste, wo die weißen Touristen in schönen großen Hotels wohnen. Manchmal kann ihre Mutter in einem der Hotels als Aushilfe arbeiten und die Zimmer der abreisenden Gäste putzen. Aber meist arbeitet Ngungis Mutter auf dem kleinen Stückchen Land hinter ihrer Hütte, wo sie Maniok, Mais und Süßkartoffeln anbaut. Das ist die Hauptnahrung der beiden. Ngungis Vater lebt in der Hauptstadt Nairobi. Dort arbeitet er im Straßenbau. Er kommt nur einmal im Jahr für ein paar Tage nach Hause. Das muss so sein, denn er muss Geld verdienen, damit sie ihr Stückchen Land abbezahlen können und damit Ngungi zu Schule gehen kann, denn in Kenia muss man für die Schule bezahlen.

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Erinnerung an den 07.12.2005: Abschied – Trauer – Dankbarkeit – Liebe

Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft Tabu-Themen. Wir haben Angst vor der Endlichkeit des eigenen Seins und so überlassen wir den Umgang mit sterbenden Menschen häufig Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten. Auch ich hatte oft Angst, mich damit auseinander zu setzen. Bis zu einem Dezemberabend im Jahr 2005.

Heute nun jährt sich ein Tag zum neunten Mal, der mich als Menschen, vor allem aber meine Einstellung zu den Themen “Tod” und “Sterben” geprägt hat. Ich möchte einige Gedanken dazu mit Euch teilen.

Im Herbst 2005 zeichnete sich ab, dass das Leben meiner 83-jährigen Oma dem Ende zuging. Seit Jahren schon litt sie an Krebs. Trotz mehrerer Operationen und vieler Therapien war die Krankheit unaufhaltsam Continue reading

Replies aus der Hölle oder: How to be a Vollpfosten

  1. Du bist bei Twitter und hast etwa 8 bis 28 Follower
  2. Du suchst nach einem guten Tweet. Möglichst von Leuten mit mehr als 500 Followern. Und nur Tweets mit vielen Favs. Also ab 100 Sterne aufwärts.
  3. Du favst und retweetest diesen Tweet auf keinen Fall, aber Du schreibst eine Reply. Eine Reply aus der Hölle. Möglichst als Frage formuliert.
  4. Nachdem Du das etliche Male gemacht hast, wirst Du mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass das nicht angebracht ist.
  5. Du schreibst noch eine Reply aus der Hölle. Am besten ist, wenn Du darauf bestehst, dass die Frage aus der vorherigen Reply aus der Hölle beantwortet wird.
  6. Du kündigst an, dem Tweetautor und/oder demjenigen, der Dich darauf aufmerksam gemacht hat, dass solche Replies aus der Hölle nerven, nun zur Strafe nicht mehr zu folgen.
  7. Du schreibst selbst einen Tweet, in dem Du die beiden unter Punkt 6 genannten schlecht machst.

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Schurkenstaaten

Bei einem Gespräch in der Kaffeepause fragte mich eben ein Kollege, ob ich schon Urlaubspläne hätte. Für dieses Jahr ist mein Urlaub schon gelaufen, aber ich sagte ihm, dass ich darüber nachdenke, im nächsten Jahr einmal nach Kuba zu reisen.

„Nach KUBA???“, entgegnete er entrüstet. „Wie kann man freiwillig in ein Land reisen, in dem die Menschenrechte so mit Füßen getreten werden? Weißt Du eigentlich, dass die kubanische Regierung die spärlichen Telekommunikationseinrichtungen und das Internet des Landes flächendeckend überwacht? Dass Kuba Menschen ohne Gerichtsverhandlung in Gefängnissen oder Lagern festhält? Dass Kuba immer noch offiziell die Todesstrafe verhängt und Anfang 2003 auch in drei Fällen vollstreckt hat? In so ein menschenverachtendes Land würde ich doch nicht reisen! Sowas, DAS ist für mich ein Schurkenstaat“.

„Hmmm“, sagte ich nachdenklich, „Vielleicht hast Du ja schon ein bisschen Recht. Und wohin fahrt Ihr dieses Jahr?“.

„Wir fliegen in die USA!“

Amazon? Oder doch Bücher riechen?

58529_web_R_B_by_wuestenfux_pixelio.deIch mag Buchläden. Schon als Kind und Jugendlicher war dies für mich eine andere Welt, in die ich gern eingetaucht bin. Zur Erläuterung muss ich vielleicht hinzufügen, dass meine Eltern den ersten Fernsehapparat ins Haus holten als ich bereits 14 Jahre alt war. Und so waren Bücher für mich das, was für andere heute die Serienhelden der Kindheit sind. Der Buchladen bei uns am Ort war für mich ein fester Anlaufpunkt, den ich mindestens einmal pro Woche besuchte. Der alte Buchhändler war sehr freundlich. Er wusste, dass ich gut mit den Büchern umging und so ließ er mich in Ruhe stöbern. Fragte mich jemand aus der Familie, was ich mir denn zum Geburtstag oder zu Weihnachten wünschte, so verwies ich ihn immer auf diesen Buchhändler: “Geht mal zu Herrn Ringe, der hat eine Liste!”. Und die hatte er wirklich. Wann immer ich mir ein Buch wünschte, für das das magere Taschengeld nicht ausreichte, holte er seine alte, abgestoßene Kladde aus der Ladentheke in der es eine Seite gab, auf der “Frank” stand. Dort notierte er meine Wünsche. Manchmal schrieb der alte Fuchs Continue reading

Akzeptanz der sexuellen Toleranz in Deutschland? Fehlanzeige!

Beim Aufräumen fiel mir neulich eine ältere Zeitung aus dem Januar dieses Jahres in die Finger. Ich hatte sie aufgehoben, weil zwei Artikel darin zu lesen waren, die konträrer nicht sein könnten:

Zum einen wurde mit einem Mahnmal in Form eines rosa Winkels in Tel Aviv zum ersten Mal in einer israelischen Stadt ein Mahnmal zum Gedenken der verfolgten sexuellen Minderheiten zur Zeit des Nationalsozialismus enthüllt. Dies ist umso bemerkenswerter, weil gerade Juden, in der Zeit Continue reading