Heute stürzte die Maschine der Lufthansa-Tochter Germanwings mit der Kennung 4U9525 auf ihrem Weg von Barcelona nach Düsseldorf über den französischen Alpen ab. Alle 150 Insassen fanden dabei den Tod. Unter den Passagieren befand sich auch eine Schülergruppe aus Haltern in NRW.
Ja, ein solches Unglück macht “betroffen”. Vielleicht denkt man auch einen Moment darüber nach “Was wäre wenn…”. Was wäre, wenn mein Kind mit an Bord gewesen wäre? Was wäre, wenn meine Ehefrau eine der Stewardessen gewesen wäre? Was wäre, wenn der Pilot mein Lebenspartner gewesen wäre?
Es ist gut und richtig, dass wir Menschen zur Empathie fähig sind. Es ist gut und richtig, dass wir einen Moment innehalten und Gedanken des Mitleids, des “leiden mit den Betroffenen” empfinden.
Aber können wir dieses Leid wirklich ermessen? Vor allem, ist es wirklich UNSER Leid? Und müssen wir deshalb an diesem Tag alle möglichst ÖFFENTLICH (und öffentlichkeitswirksam!) leiden?
Die heutige Zeit ist geprägt von den sozialen Medien, die längst den konventionellen Medien den Rang abgelaufen haben, wenn es darum geht, Nachrichten in Windeseile rund um den Globus zu verbreiten. Konventionelle Medien – vor allem das Fernsehen – greifen gern bei Ereignissen wie diesem auf die Postings in den “sozialen” Medien wie Twitter, Facebook, Google+ und anderen zurück, um die Stimmung des Volks einzufangen.
Dies setzt meines Erachtens einen Mechanismus in Gang, bei dem man nicht weiß, was zuerst da war. Waren da zuerst die millionenfachen öffentlichen Bekundungen der Betroffenheit in den Sozialen Medien über die dann im Fernsehen berichtet wurde oder wurde zuerst im Fernsehen darüber berichtet und die Nutzer der Sozialen Medien fühlen sich dadurch quasi unter Druck gesetzt auch dort ihre Betroffenheit zu bekunden, weil sie ja nicht als weniger empathiefähig gelten wollen als andere?
Schaut man heute in die sozialen Medien, so ist der Hashtag #4U9525 das Top-Thema. Ein paar Trolle entblöden sich nicht, unter diesem Hashtag dämliche Flugabsturz-Witze zu reißen. Dass sich ein solches Verhalten verbietet, das versteht sich von selbst. Diese Menschen weiß ich jedoch einzuordnen und sage “arm an Geist und Substanz”. Das Netzwerk Twitter bietet für solche Fälle die sehr nützliche Blockier-Funktion und man muss die Postings solcher Menschen nie wieder lesen.
Jedoch gehen mir auch einige Betroffenheits-Tweets massiv gegen den Strich. Das bezieht sich nicht nur auf Twitter, sondern auch auf Facebook und andere “soziale” Medien. Da wird sich gegenseitig damit überboten, die eigene Betroffenheit und Trauer als besonders intensiv darzustellen und in die Welt des Internets hinaus zu schreien. Als ob es dabei um einen Wettbewerb ginge. Ein Wettbewerb darum, wer am meisten mitleidet. Vielleicht ist es unbewusst ja der Wettbewerb darum, es mit seinem eigenen Betroffenheits-Tweet und Facebook-Posting in die Nachrichtensendungen des Fernsehens zu schaffen?
Ich will niemandem seine Gefühle des Mitleids absprechen.
Aber müssen wir dies so sehr zur Schau stellen? Muss dies solche Blüten treiben, dass derjenige, der voller Freude und Stolz der Welt (seiner Follower-Welt auf Twitter oder Facebook) über eine bestandene Prüfung berichtet, verurteilt wird, weil er sich an einem Tag wie heute freuen kann? Darf ich mich an einem Tag wie heute nicht darüber freuen, dass in meinem unmittelbaren sozialen Umfeld ein Kind geboren wurde? Darf ich das nicht fröhlich in die Welt hinaus posten? Ja, darf ich an einem Tag wie heute nicht darüber lachen und das niedliche Foto posten, das meinen Kater dabei zeigt, wie er sich tief in meinen Wäschekorb eingräbt? So wie ich das an jedem anderen Tag auch tun würde?
Und stellen wir uns doch auch einmal die Frage, ob es nicht viele, viele Dinge gibt, die uns eigentlich genauso betroffen machten müssten. Zwei Beispiele will ich nennen:
1. Legt man die Zahlen des Vorjahres zu Grunde, dann sind bis heute (24.03.2015) allein im März 2015 wieder 196 Menschen auf deutschen Straßen ums Leben gekommen. Auch das waren Eltern, Kinder, Lebenspartner, Ehefrauen. Insgesamt mehr Tote als bei dem Flugzeugabsturz. Nur in diesem Monat, der noch nicht zu Ende ist. Jeder einzelne von ihnen ein Mensch, ein Mensch um den getrauert wird. Jeder einzelne tödliche Verkehrsunfall ein Ereignis, dass das Leben, das Schicksal der trauernden Angehörigen für immer verändert.
2. Allein heute wurde wieder bei 5 Kindern in Deutschland Krebs diagnostiziert. Nur heute. An diesem 24.03.2015, der uns wegen #4U9525 so sehr betroffen macht. Das sind 155 Kinder im gesamten März. Rund die Hälfte dieser Kinder wird den Krebs nicht besiegen können und daran sterben.
Macht uns das genauso betroffen? Warum nicht? Warum reden wir nicht darüber? Warum sind die sozialen Netzwerke nicht voll davon? Das passiert monatlich, täglich, nicht nur heute. Es gibt keinen Hashtag dafür wie für den Flug #4U9525 und auch die konventionellen Medien berichten nicht darüber. Warum nicht? Weil es keine Quote bringt? Weil es “normal” ist? Weil es gar keiner wissen will? Weil es uns nicht betroffen macht?
Und warum wollen wir dann bei #4U9525 betroffen sein? Warum wollen wir da so öffentlich und exzessiv kollektiv trauern?
Nochmals: Mir tun die Menschen, die heute an Bord von #4U9525 ums Leben kamen und deren Angehörige wirklich leid. Nein, “betroffen” bin ich nicht. Denn ich kannte keinen von ihnen und auch keinen ihrer nun trauernden Angehörigen. Aber ich bin ein empathiefähiger Mensch und empfinde es natürlich als tragisch, dass so viele Menschen – darunter neben den Kindern und Jugendlichen im Übrigen auch zwei Säuglinge – ums Leben kamen.
Aber ich muss dies nicht zur Schau stellen. Ich muss nicht in der Öffentlichkeit unter Beweis stellen, dass ich der empathiefähigste Mensch auf Gottes weiter Erde bin. Und vor allem muss ich nicht Menschen verurteilen, die – auch an einem Tag wie heute – Freude empfinden können, weil es in ihrem eigenen Leben gerade gut läuft.
Stellen wir uns doch einmal die Frage, wie und warum sich diese neue deutsche Betroffenheitskultur entwickelt hat. Geht man einmal 30 Jahre zurück, so nahm man Nachrichten wie diese zur Kenntnis, sagte “Mein Gott, wie tragisch!” (und meinte das sogar wirklich ernst) und ging wieder zur Tagesordnung über. Doch heute hat jeder, wirklich jeder, die Möglichkeit über die sozialen Netzwerke eine Menge Menschen zu erreichen. Ich schreibe einen (etliche schreiben sogar im 5-Minuten-Takt immer wieder einen) Betroffenheits-Tweet über den Flugzeugabsturz, poste vielleicht ein besonders stimmungsvolles Foto mit einer Kerze und den Buchstaben “R.I.P” (Rest in Peace / Ruhe in Frieden) auf Twitter oder Facebook und bekomme als “Anerkennung” dafür hunderte von “Likes” auf Facebook oder “Faves” auf Twitter. Ja, ich kann mich nun zurücklehnen und mir sagen, dass ich ein “Gutmensch” bin. Denn ich habe volle Anerkennung für meine Empathiefähigkeit erhalten.
Ist diese neue deutsche Betroffenheitskultur vielleicht in Wahrheit nur eine Möglichkeit, sich selbst in ein möglich positives Licht zu stellen? Und dies, indem ich das Leid anderer Menschen – nämlich der wirklich “Betroffenen” – nutze, um mir selbst die Anerkennung meiner Mitmenschen zu sichern?
Was ist mit all dem anderen Leid und Elend in unserer Umgebung? Gehen wir mit offenen Augen durch die Gegend, finden wir auch in unserer eigenen Umgebung Leid. Ja, auch in unserer Stadt gibt es vielleicht die Mutter mit drei Kleinkindern, deren Mann heute durch einen Verkehrsunfall starb. Über sie wird nicht den ganzen Tag gesprochen. Nicht im Fernsehen und auch nicht in den sozialen Medien. Dabei hätten wir gerade hier die Möglichkeit unsere Betroffenheit durch Taten zu beweisen. Vielleicht im ersten Moment der Trauer durch eine stille Umarmung. Vielleicht in ein paar Monaten dadurch, dass wir einen Abend auf ihre Kinder aufpassen, damit sie auch einmal wieder mit einer Freundin ins Kino oder eine Pizza essen gehen kann.
Das wäre für mich echte Betroffenheit, echtes Mitleid und tätige Nächstenliebe. Aber das würde ja niemand auf Facebook “liken” oder bei Twitter “faven”. Kaum jemand würde davon Notiz nehmen. Und schon gar nicht bestünde die Chance, es damit in die Nachrichtensendungen zu schaffen. Also lassen wir es doch lieber sein und äußern weiter in einer – für mich – äußerst übertriebenen und unpassenden Art und Weise unsere Betroffenheit zu Ereignissen, die zwar sehr tragisch sind, uns aber eigentlich gar nicht betreffen, die uns jedoch zweifelsohne die größere Möglichkeit zur Selbstdarstellung bieten.
Das ist wohl dann die neue deutsche Betroffenheitskultur.